Ich entsinne mich meiner ersten und einzigen persönlichen Rückmeldung an der Universität, bevor diese gänzlich per Brief erfolgte. Umgeben von bereits Studierenden sowie einer beachtlichen Zahl „Quietschies“, und gelegentlich gelangweilt mit dem Turnschuh über die hervorstehende abgetretene beigegraue Schlingenware schabend, schlurfe ich mit 1 km/h durch die mit geschäftigem Schwatz gefüllten Gänge, um schließlich beim einzigen geöffneten Büro anzukommen, wo imposant befingernagelte Sekretärinnen unsere Unterlagen langmütig und geduldig entgegennehmen sollten, so langmütig, wie man nun einmal geworden ist, wenn man noch von 25-jährigen Prüflingen fürs Erste Staatsexamen wiederholt die abgegriffene Geburtsurkunde einfordern muss, und es sich, und das rate ich ihnen!, versagt hat, jemals, wirklich jemals den Sinn dieser Vorschrift zu ergründen.

Missmutig schiebe ich mich also schlingenwareschabend durch die Gänge, als mich ein rauhes „Bist du a do?“ aus meiner gebeugten Schlurfhaltung reißt. Grob, weil dieses sprachliche Gebilde weit mehr darstellt als simples Niemandsland zwischen Frage und Feststellung, Triumphbekundung und Ausruf des ungläubigen Erstaunens, quasi ein linguistischer Wolpertinger, den der Niederbayer beim Erblicken jeder, und zwar bezeichnenderweise erwarteter und unerwarteter Erscheinung gleichermaßen, sowohl selbstbewusst-lautstark äußert wie auch vom Gegenüber erwartet.

„Bist du a do?“ kennzeichnet damit einen waschechten Niederbayern, hier geboren, aufgezogen und fest entschlossen, sein Dasein hier zu beenden. „Bist du a do?“ kann an alle gerichtet sein, kann hinterhältiges Ertappen genauso signalisieren wie glückliche Wiedervereinigung; es weckt Erinnerungen an Großväter auf moosbewachsenen Gartenbänken, die, in sehnsüchtiger Erwartung an die aus dem Kindergarten kommende Enkelin, täglich zur selben Uhrzeit freudig und zugleich überrascht die Rückkunft derselben feststellen. Schon Vierjährige haben die Idiosynkrasien ihrer Heimatsprache in dem Maße internalisiert, dass ein einfaches Kindergartentäschchenschwingen vollauf genügt, denn mehr als alle anderen entbehrt der Sprechakt „Bist du a do?“ jeglichen Aufforderungscharakters.

Und doch enthält der Ausdruck so viel mehr relevante Konnotationen als ein schnödes „Griaß di“, „Habe die Ehre“ oder „Vergelt’s Gott“. Mehr als diese macht der Niederbayer hier in gewohnt ökonomischer Manier sozial höchst bedeutsame Angaben. Sie dienen, je nach Anwesenden, der Erinnerung, der Versicherung und der Mitteilung. „Bist du a do?“ ruft der Nachbar über den Zaun, und teilt doch so viel mehr mit als seine bloße Anwesenheit. Du und ich, wir beide, obwohl wir uns nie das Du angeboten haben, leben hier in einer gewachsenen organischen Einheit. Wir reden mehr übereinander, als wir übereinander wissen, und können kaum angeben, wer zuerst eingezogen ist oder hier sein Haus gebaut hat. Das ist der Rückversicherung des Selbstverständnisses eines Niederbayern durchaus förderlich, trägt es doch seinem Lebensgefühl Rechnung. Sie leben zufrieden-selbstvergessen in der Vergangenheit, in der immer alles so war, wie es ist, und die qua selbstversichernd-beschwörender Formel auch für alle Zeit Bestand haben soll. Allfällig des Weges kommende Fremde, sollten sie ihre Wege an betroffenen Gartenzäunen vorbeiführen, werden durch „Bist du a do?“ prompt und unmissverständlich über diesen gewachsenen Hort trauter Gemeinschaft informiert und zugleich ebenso prompt ausgeschlossen. So wäre eine überraschte Bemerkung zum verirrten Fremden, mag man denken, viel eher am Platz; der Fremde wird scheinbar ignoriert, vielleicht misstrauisch beäugt, allenfalls wird seine Anwesenheit nach einiger Zeit mit Interesse verfolgt; wohl wird sein Aufenthalt überrascht zur Kenntnis genommen, allenthalben auch mit Feindseligkeit, und je nach Aufenthaltsdauer wird offene Neugier bekundet. Niemals aber wird das ihm gegenüber verbal geäußert, und schon gar nicht mit „Bist du a do?“, und hier ist das grundsätzlich im ungefragten Einvernehmen verwendete „Du“ das Hindernis. Er hat sich schlicht nicht darum verdient gemacht. „Bist du a do?“ tauscht man mit dem Getränkelieferanten aus, mit dem Postboten, dem Fahrer des Kohlewagens, dem benachbarten Bauern, der Freundin vor der Kirche, schließlich womöglich mit Petrus am Himmelstor.

Sich dieser reichhaltigen semantischen Dimension wahrscheinlich gänzlich unbewusst, so urteile ich, begrüßt nun ein junger Bursche eine junge Dame, deren Erscheinungsbild auf Erstsemester schließen lässt, mit eben jener Formel. Treuer Blick vor hängenden Schultern, Hände verlegen in den Taschen, abschätzend beäugt von barbourbejackten Kulturwissenschaftlern. Wohl um dieser kostbaren Gelegenheit studentischer Kontaktaufnahme nicht verlustig zu gehen – wobei die Begrüßung ohnehin auf eine gemeinsam verbrachte 13. Klasse schließen lässt –, liefert die Dame umgehend die einzig angemessene Replik: 

„Joo“ – eindeutig konstatierend, dass es sich im Gegensatz zu den oben skizzierten Anlässen um eine eher gespannte und aufgeladene denn eine ritualisierte und alltägliche Situation handelt; denn sie wünscht Konversation. So schlurfen sie nebeneinander über die Schlingenware und ich bemerke gegen meinen Willen ein unangemessenes Interesse an der Entwicklung der Wiederbegegnung zwischen diesen zwei Ex-Gymnasialschlingeln.

„Joo, un … wos duast, ha?“ (glucks

spinnt der Bursch verlegen-jovial grinsend das Gespräch weiter.

Oh, das will ich auch wissen. Kulturwissenschaft fällt aus, KuWis sprechen keinen Dialekt. Nie. Auch nicht in Passau. Kulturwissenschaftler in Passau stammen in der Regel aus Hamburg, Monaco oder einer afrikanischen Hauptstadt, wo ein deutscher Chefdiplomat die Wahl hatte zwischen Kind schnell verheiraten, Kind schnell das Erbe auszahlen oder Kind in einem prestigesichernden Nichtsnutzstudium zu deponieren (was die ersten beiden Optionen oft einschließt).  Ganz selten satteln sie auch mal aus der Juristerei um oder suchen händeringend nach einem Studiengang, in dem sie wenigstens zwei Drittel ihrer bisher in einem fruchtlosen Studium der Völkerwissenschaften erlangten Scheine gewinnbringend verfrühstücken können.

Ja, was duat sie nun?

Sie druckst herum, grinst verlegen, fokussiert den Boden.

„Jo mei … Lehramt hoit.“ glucks

Das war abzusehen und eine verspätete Erkenntnis ist reinem verzweifelten Verdrängen geschuldet. Denn natürlich studiert die Dame auf Lehramt. Kein anderes Studium ist wie Lehramt die Antwort auf die Frage „Was soll ich hier und wenn ja, wie wenig?“ Es gibt kaum Lösungen für den hinlänglich berechenbaren zyklischen Lehrermangel, die mutloser machen als diese Art Bewerber. Vielleicht, weil sie sich nie bewerben müssen.

Man grinst und gluckst sich von der Seite an, so richtig anschauen wollen sich die beiden nicht. Niemand außer mir wird Zeuge dieser Annäherung, die so bezeichnend und ikonisch zu werden verspricht wie ihre Eröffnung.


„Jo, und … säiba, ha?“ glucks

Die Dame zieht unterstreichend die Nase hoch, eine Geste, die in Niederbayern mehr Nachdruck signalisiert als eine Entzündung der Atemwegsschleimhaut. Ich lausche. Noch immer schleichen sie mit hängenden Schultern verlegen nebeneinander, nach 6-wöchiger Trennung wieder vereint, aber sich ihres Füreinandergeschaffenseins noch nicht völlig gewahr.

„Jo mei … “, setzt er verschämt-leutselig an.

Ich starre.

„I aa.“

 

In der Folgezeit verlor ich die beiden putzigen Kommilitonen aus den Augen.


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Bild: Surprising_SnapShots via pixabay

Text: Copyright 2024 aufgmandlt.de, A. Mayer



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