„Ich hab da von der Mami so was gekriegt, des brauch ich net. Des kannst haben für dein Gerät. So eine Scheibe.“ Ach, eine CD. Ich nicke gütig. Mal sehen, was drauf ist. „Wieso schenkt dir die Mami CDs?“ frage ich dann und folge meiner Oma zum Kühlschrank. Wieso folge ich meiner Oma zum Kühlschrank? Sie öffnet die Tür, dann das Gefrierfach und fördert ein kleines etwa 8x8x2 Zentimeter großes in Cellophan gewickeltes Päckchen zutage, auf dem gefrorener Dill liegt. Ich wische den Dill und ein paar Eiskristalle weg. „Schöller“ steht da, und „Notizblock“. „Das ist ein Werbegeschenk, Oma, da ist keine CD drin … aber danke.“
Aus Sicht meiner Oma ergibt es tadellosen Sinn, neben all den neuen Eiskreationen auch den Notizblock ins Gefrierfach zu legen. Ist doch auch Schöller. Ich lache mich trotzdem kaputt. „Hör auf mit Frotzeln, ich bin halt alt“ mault meine Oma. Ich frotzle eifrig weiter, die Gelegenheit ergibt sich so nie wieder.
Dabei ist es natürlich gemein. Man muss nicht betagt sein, um derlei liebenswerten Irrtümern zum Opfer zu fallen. Eine Mitreferendarin, zum Exempel, fühlte sich in der anstrengenden Schlussphase unserer Ausbildung an ihre Graecum-Prüfung erinnert, welche nicht minder die zu der Zeit nurmehr kargen geistigen Ressourcen strapazierte. Als sich die Lernzeit ihrem Ende zuneigte und das Examen näherrückte, stellte sie entsetzt fest, dass sie ihres Griechisch-Lexikons verlustig gegangen sein musste. Sie suchte an allen möglichen und unmöglichen Orten, dachte sie. Gefunden hat sie es schließlich – im Kühlschrank. Ungläubig wandte sie sich zum Bücherregal, das gekühlte Lexikon in der Hand. Dort stand, fein säuberlich in Reih und Glied mit allerlei studentischem Lesewerk, der Milchkarton, der mit seinen Abmessungen nicht im Geringsten als Fremdkörper hervorstach.
Da ich nun nicht in den Verdacht geraten möchte, hier ausschließlich fremde Vergesslichkeiten der Lächerlichkeit, wenn nicht gar der Welt preiszugeben, möchte ich dem Leser bei diesem Anlass noch zwei persönliche Fehltritte aufdrängen, deren Bilder es nicht minder vermögen, sich dauerhaft ins Gedächtnis zu brennen, um bei Gelegenheit zum Zwecke fragwürdiger Belustigung hervorgeholt und weitergetragen zu werden; zumal mein gleichnishaftestes Erlebnis zugegebenermaßen nicht nur in allfälliger Gedankenlosigkeit, sondern zu einem Gutteil in gemeiner Eitelkeit begründet liegt.
So fand ich mich eines Morgens in meiner Studentenzeit, wie fast an jedem Morgen, bei der freundlichen Bäckerin hinterm Dom wieder, wo ich, wie gewohnt, zwei Kürbiskernbrötchen forderte und bereits pflichtschuldig im Portemonnaie kramte. Nicht wie jeden Morgen war: Die Menschen, offenkundig aus ähnlich gelagerten Bedürfnissen an ebendiesem Ort weilend, starrten mich an, starrten mich ganz gezielt und mit merkwürdig ausdrucksloser Miene an. Ich starrte fragend zurück, packte recht überstürzt mein Tütchen, winkte zum Abschied und stolperte verwirrt aus dem Laden, die Blicke im Rücken. In meiner Wohnung angekommen erfuhr ich bei einem kurzen Blick in den Badezimmerspiegel entsetzt den Anlass des allgemeinen Erstaunens. Ich pflege nämlich nach dem Föhnen die Rundbürste im Pony zum Zwecke der vollendeten Frisurformung zu belassen, und sie vor Verlassen der Wohnung wieder herauszunehmen; nur eben nicht an jenem Tag.
Bei den Großvätern ist die Weisheit und der Verstand bei den Alten, sagt die Bibel. Hier bilde ich eine Ausnahme, ich habe an Kopflosigkeit nichts verloren. Als Lehrer hat man ja seine eigene Show. Das offenbarte sich mir quasi aus dem Nichts, als ich kürzlich, traurig an einer halbgeschälten Mandarine herumpulend, dem gewohnt schluchzenderweise geklagten Leid einer semibefreundeten Lehrkraft lauschte. „Aber du kannst dich doch wehren!“ rufe ich da plötzlich aus, „Lass dir doch nix gefallen, von dem schon gar nicht, du stehst doch da vorne, das is deine Show … du hast deine eigene Show!“
Wow. Ich starre sie überrascht wie gleichermaßen triumphierend an und stopfe mir dabei wie zum Nachdruck die ganze halbe Mandarine rein. Damit kann die Kollegin nichts anfangen. Ich aber. Als es zum Pausenende klingelt, raffe ich meine Siebensachen zusammen und schreite, die Fäuste geballt, in die 8. Klasse, entschlossen, dem neuen Lebensgefühl den verdienten Atem einzuhauchen. Achtklässler sind geschöpft worden als soziopathische Nonsens-Anarchisten, die ganzjährig fröhlich Synapsenfasching feiern, so desinteressiert an restlos allem, dass für sie ab Mittwochnachmittag Publikumsbeschimpfung eine als sinnstiftend wahrgenommene Unterrichtsform darstellt. Heute ist erst Dienstag, aber ich bin bereit, Lernen flexibel zu gestalten. Zumal sich kurz vor Weihnachten ohnehin jeder Kollege wie ein humpelndes Gürteltier mit zerzauster Perücke fühlt, das ständig über seine Lesebrille stolpert, Sockenpuppe seines unvorhersehbar ausfallenden und dann wieder ohne Vorwarnung anspringenden Gedächtnisses.
Die Kinder bekommen einen Gruppenarbeitsauftrag, dessen Sinn und Inhalt mir sicher zu Recht entfallen ist. Nicht entfallen ist mir mein gewohnt und durch rege Routine erworbenes professionell-zurückhaltendes Schreiten durch den Raum, bemüht, die Sohlen leise aufzusetzen, nicht aufdringlich, aber doch mit sachter Präsenz. Ich wurde einmal in einem YouTube-Video zur Apokalypse von absolut allem im Pulk mit einer halben Million anderen erschrockenen Zuschauern ermahnt, zwar immer gut bevorratet zu sein, mich aber beim Aufenthalt außer Hause durch schlichte Kleidung, den Kopf idealerweise grau bemützt, schlendernden Gang, mäßiges Schritttempo und gesenkten Blick ohne Augenkontakt möglichst unsichtbar zu machen, um Bewohner, die sich statt einer Bevorratung lieber auf das Aufspüren Bevorrateter verlegt haben, nicht auf mich aufmerksam zu machen. Ich musste sehr lachen, denn die Videosequenz erinnerte mich, abgesehen von schlichten Gewändern, so gerade an mein Gruppenarbeitspirschen.
Ich pirsche also durch die Klasse und stelle, meinen Ohren nicht trauend, den zweitschlimmsten Aufreger aller Fremdsprachenlehrkräfte fest. Man unterhält sich während der Gruppenarbeit – auf Deutsch. Auf Deutsch! Das ist meine Show. Ich gebe die Anweisungen. Ich belle:
„Excuse me, you are supposed to conduct your conversation in English!“
Kann ja nicht sein!
Das Kind Elif dreht seinen Kopf in ihrem Hoodie aus der konspirativen Gruppe heraus müde um etwa 30° zu mir:
„Wir haben Deutsch, Frau Maunz.“
„Tschuldigung.“
Heute lieber keine Publikumsbeschimpfung. Bald ist Weihnachten.
PS.: Den schlimmsten Aufreger stellen vom Ministerium zur Verfügung gestellte zweisprachige Wörterbücher dar, deren anrüchiges Vokabular zielsicher aufgespürt, mit neongelbem Markierstift gekennzeichnet und von jeder weiteren nachrückenden Jahrgangsstufe ergänzt wird, zur gerechten Empörung unschuldig darin herumsuchender Schüler oder Lehrkräfte.
_________________
Bild: Peter Kraayvanger via pixabay
Text: Copyright 2024 aufgmandlt.de, A. Mayer