Im Oktober des Jahres 2000 saß ich aus Gründen, die ich hier nicht breittreten möchte, im Wartezimmer eines Krankenhauses in einer walisischen Stadt. Während die Mehrheit des Publikums sich offenkundig zunächst in bräsigem Nachbarschaftstratsch erging, inspizierte ich interessiert die Plakate, die man dort, und da unterscheiden sich die Waliser wahrlich nicht von den Deutschen, zum Zwecke der Werbung für medizinisches Gerät an der Wand angebracht hatte. Neben einigen enttäuschend vertraut wirkenden Werbeanzeigen und Angeboten, die dem Patienten vollkommene Gesundheit außerhalb der Kassenleistung versprach, wenn nötig zum Preis einer Niere, nahm ein Anschlag meine Aufmerksamkeit unmittelbar in Beschlag; dabei war der Inhalt in der Tat keine Besonderheit; es handelte sich um Maßnahmen nach dem Verlust des Gehörs.
„Have you lost your hearing? You may experience this as a traumatising and devastating state; maybe you fear your life has lost all meaning, maybe you even doubt life has any meaning at all; fret not! There is help and you can reach out your hand! Join our meetings – sign up for therapy just for your health issue – join co-patients and exchange experiences […] We can guarantee that there is a life out there for you, and it is ready to be found! Phone today: […]“
Nun möchte ich ausdrücklich beteuern, dass es mir fernliegt, Menschen mit Hörsturz oder dauerhaftem Verlust des Gehörs zu verspotten. Ich war mir vielmehr nicht einmal gewahr, dass es sich hier um solche handelte. Denn in meiner Schludrigkeit und Eile, vielleicht auch, weil das Plakat schräg neben und oberhalb von mir hing, las ich nicht „hearing“, sondern „earring“. So musste ich irrtümlich zur Kenntnis nehmen, dass der Verlust eines einzelnen Ohrrings, welchen Werts auch immer, in Wales eine veritable medizinische und persönliche, ja existenzbedrohende Katastrophe darstellte, die die Patienten am Sinn des Lebens zweifeln ließ und sie mitunter sogar dazu trieb, selbiges zu beenden; und dass es in Wales Selbsthilfe- und Therapiegruppen gab für … wen? Ab da konnte ich nun nicht mehr an mich halten; ich brach in schallendes Lachen aus, krümmte mich zunächst auf dem Sitz und bog und rollte mich schließlich in Tränen auf dem Boden. Mein Begleiter, den ich nach Kräften in Satzfetzen zwischen zwei Lachsalven über das pietätlose Missverständnis unterrichtete, folgte bald nach, und nach und nach erfasste unser Anfall fast das ganze Wartezimmer. Nun geschah es, dass gerade zu dem Zeitpunkt, als nahezu alle Anwesenden ihrer weithin hörbaren Erheiterung über behandlungsbedürftigen Schmuckstückverlust Ausdruck gaben, die Krankenhausbedienstete mit adrettem Mützchen im Raum stand.
„Next, please!“
Ungehalten beobachtete sie das sich ihr bietende Schauspiel, und unsere Versuche, ihr den Anlass unserer Belustigung zu erläutern, trugen nicht zu ihrer Besänftigung bei. Ich erinnere mich nur, dass ich schließlich als Zündfunke identifiziert wurde und meine Behandlung sich nicht eben patienten- oder auch nur ausländerfreundlich ausnahm.
Bis zum Delirium in komatöser Langeweile gefangene Kinder sind überdies oft nur aus dieser zu reißen, indem man als Lehrkraft eben gerade beides nicht tut: genau nachdenken und korrekt lesen. Die eine oder andere Situation mag weit über das durchaus mit pädagogischem Wohlwollen gesteckte Ziel hinausschießen, aber no risk, no fun; und der gelegentliche effektvoll unangekündigte Besuch einer erbost hereinwabernden Kindesmutter trägt mitunter zur belustigenden Auflockerung des bekanntermaßen drögen Schulalltags bei.
Todsichere Entgegnungen für ein zeitnahes explosives Elterngespräch gibt es zuhauf, und die unbedacht-spontane Art der Äußerung gibt der Stunde den erforderlichen Anteil Frische.
„Die Prüfung ist zu schwer!“
„Deine Mutter ist zu schwer.“
Gut aufmischen lässt sich auch mit einer unerwarteten Erklärung für die Notwendigkeit des Schulbesuchs. Gerade Kinder, die sich oft erfolgreich um den Lernstoff drücken, erklären überzeugt, sie seien hier, um zu lernen.
„Du bist nicht hier, um zu lernen. Du bist hier, um mich zu unterhalten. Deine Eltern werden dafür großzügig entlohnt und feiern in dieser Minute Kokspartys in deinem Zimmer. Was glaubst du, wo dein Frühstück herkommt? Die große Weltverschwörung besteht darin, dass wir euch jahrhundertelang an der Nase herumgeführt haben. Der Einzige von den dreien, der arbeitet, bist du. Schieß mich nochmal hoch und die Zahlungen bleiben aus.“
Als mittlerweile unentschuldbar unpädagogisch gilt das laute Vorlesen in der Klasse kursierender Wanderzettelchen. Ich mache gerne eine Ausnahme bei den mir persönlich abgegebenen, die meist im Klassenbuch verbleiben.
„,Wenn Sie meiner Tochter nicht innerhalb von zweieinhalb Minuten eine gute mündliche Note eintragen, tunken wir Sie nach Sonnenuntergang in ein reichlich gefülltes Schälchen Haferbrei.'“
Ungläubiges Aufblicken, zusammengezogene Augenbrauen.
„Und du glaubst, das läuft?“
Glaubwürdigkeit erwirkt man damit freilich nur in der Unterstufe. Auch folgende Richtigstellung eignet sich ausschließlich für Fünftklässler:
„Sommerferien? Welche Sommerferien? Landesgymnasialgesetz Paragraph 16 Artikel 12 Absatz 1: ‚Wer an einem Gymnasium in Bayern unterrichtet oder ein Gymnasium leitet, das eine Unterstufe mit mindestens 4 Lerngruppen einschließt oder in den vergangenen 15 Jahren an einem Gymnasium gearbeitet oder eines geleitet hat, ist berechtigt, zu Beginn der Sommerferien, aber nicht später als nach dem Ablauf des jeweils 3. des Augusts, sich eine beliebige Anzahl der ihm anvertrauten Kinder jeder Lerngruppe der 5. Jahrgangsstufe auszusuchen und für die Dauer bis Schulbeginn zu kleineren häuslichen Erledigungen heranzuziehen. Ein Recht auf Verpflegung besteht nicht. Entziehen kann sich der Zögling lediglich durch tadelloses Verhalten ab dem Zeitpunkt, zu dem er informiert wurde.‘“
Nachfolgend klappt man das Notenbuch, das man zunächst zwecks Glaubwürdigkeit entschlossen auf einer beliebigen Seite aufgeschlagen hat, wieder zu. Funktioniert immer, angenehme Stille, jede Form von Ankündigung oder Aufgabenstellung wird mit überdurchschnittlich hoher Aufmerksamkeit aufgenommen.
Nach zahlreichen Fehltritten bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass es sich einfach nicht lohnt, etwas genau zu lesen oder auch nur zu durchdenken.
Sich verlesen hat eine lange Geschichte mit unerwarteten großen Wirkungen. Wer weiß schon, dass die beliebte Kaiserin Sissi in Wirklichkeit „Lissi“ hieß, weil nachfolgende Generationen das „L“ fälschlicherweise als „S“ lasen? Es ist kaum wahrscheinlich, dass man mit „Lissi“ schon vom Klang her eine ähnliche Ikone hätte aufbauen können.
Wie viele gutgläubige Kunden windiger krawattengeschmückter Finanzdienstleistungsverkäufer wähnten sich sicher, gerade ihre bombensichere Altersversorgung zu unterschreiben, und verpflichteten sich stattdessen unwissentlich, bis an ihr Lebensende in Turkmenistan mängelbehaftete, aber fabrikneue Heizpilze an technikinteressierte Wochenendausflügler zu verschachern.
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Bild: EME via pixabay
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